Auf, auf zum Kampf (Hartmut Fladt)

 Auf, auf zum Kampf?

Lieder der deutschen Arbeiterbewegung und ihre Aktualität

 

Von Hartmut Fladt*

 

Mehr als ein nur historisches Interesse wird gegenwärtig dem Arbeiterlied in der Regel nicht zugebilligt. Auch die angestrebte Anerkennung als Weltkulturerbe** zielt in diese Richtung. Mit der Gründung der Arbeitersänger-Vereine entstanden im 19. Jh. spezifische soziale und politische Funktionen des Singens; nach den Verboten politischer Betätigung durch die Sozialistengesetze Bismarcks (1878) waren diese Vereine Refugien weit über eine nur künstlerische gemeinschaftliche Betätigung hinaus. Aber: Dabei knüpfte man im eigenen Kampf an Kulturen des Widerstandes an, die bis heute als lebendig berührend erfahrbar sind. Sie bewahren in sich Konflikte der Menschheitsgeschichte auf.  Die neuen Funktionen der Lieder hatten unmittelbare Auswirkungen auf ästhetische Entscheidungen: Ein musikalisch vertrautes Repertoire wurde im Text, bisweilen auch in der Musik verändert.

 

Solche sehr alten Verfahren sind immer noch aktuell: Geschichte ist dann nicht „tote“ Vergangenheit, wenn sie als gesungene exemplarisch erlebbar bleibt. Das betrifft den Choral als „Marseillaise des 16. Jahrhunderts“ (Friedrich Engels), Lieder der Bauernkriege; schon im Bauernkrieg  wurden Choräle umgetextet, eine Tradition, die über Adaptionen des 19. Jahrhunderts bis zu den satirischen „Hitler-Chorälen“ von Bertolt Brecht reicht.

 

Volkslieder und Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters (Steinitz) wurden neu textiert, ebenso ursprünglich während der Arbeit gesungene Arbeitslieder. Das Er-Leben und zugleich ungeschminkte Besingen der Realität gehörte zur Kultur des Volkslieds, bevor es im 19. Jahrhundert zu dem verkam, was wir heute in den Medien erleben: volkstümliche Kunstmusik, in der dem Volk vorgeschrieben wird, wie es zu sein hat – beschränkt, herzig, „tümlich“. An die Steinitz-Sammlung knüpfte auch die Erneuerungsbewegung des authentischen Volkslieds in den Siebziger- und Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts an. Umtextiert wurden auch Hymnen wie u. a. die Marseillaise, und im „Vormärz“ gab es dann endlich neu komponierte politische und Freiheits-Lieder; Heinrich Heine spottete: „Der Knecht singt gern ein Freiheitslied / des Abends in der Schenke: das fördert die Verdauungskraft und würzet die Getränke“. „Bürgerliche“ Komponisten wie Liszt, v. Bülow und Schönberg schrieben Lieder für diesen sozialen und politischen Aufbruch.

 

In den USA entstehen die Blues-Vorläufer („Worksongs“ der Sklaven bzw. der Inhaftierten bei der Zwangsarbeit); an sie, ebenso an die „weißen“ Folk- und Arbeiterliedtraditionen knüpfen im 20. Jahrhundert Woody Guthrie und Pete Seeger an, für deutsche Liedermacher seit den Sechzigern wichtige Vorbilder. Das Singen internationaler Gewerkschafts- und Widerstandslieder  zeigt in Deutschland die Tendenz zu „geliehenen Gefühlen“. Im kollektiven Singen von Parteien und Gewerkschaften heute ist das Repertoire auf „Brüder, zur Sonne“ und „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘“ zusammengeschrumpft; bisweilen erklingt „We Shall Overcome“ oder sogar eine verschämte Internationale. 

 

In Anlehnung an Kategorien von Inge Lammel  (Das Arbeiterlied)  nun eine systematische Typologie von Arbeiterliedern: Wie wirken sich die unterschiedlichen Funktionen auf Gesten, Haltungen, Emotionen und die eingesetzten musikalischen Mittel aus? Das Marschlied hat agitatorischen und programmatischen Charakter: „Bet‘ und arbeit‘! ruft die Welt“ und „Dem Morgenrot entgegen“ sind einstimmige Massenlieder, gesungen auf Arbeiterveranstaltungen und Demonstrationen. Artifizieller das „Solidaritätslied“ und das „Einheitsfrontlied“ von Brecht und Eisler als neuer, rasch-lebhafter Marschtypus: Wer marschiert wie und wofür? Getragene Arbeiterhymnen wie „Unsterbliche Opfer“ und „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ werden, als einstimmiges Massenlied oder mehrstimmiges Chorlied, zu besonderen Anlässen und proletarischen Feierstunden gesungen (bisweilen, wie in der Internationale, mit unfreiwillig komischer Metaphorik: „...dann scheint die Sonn’ ohn’ Unterlass...“). Das episch-balladeske Lied, im erzählenden Stil, ist in Sprache und Gestaltung dem epischen Volkslied nahestehend: „Das ist des Arbeitsmannes Los“ und „Leunalied“, KZ-Lieder wie „Das Lied der Moorsoldaten“. Das lyrische Lied oder Gefängnislieder wie „Im tiefen Kerker“ werden oft für proletarische Helden gesungen. Politisch-satirische Songs verspotten Obrigkeiten mit Herrschafts-Anmaßung und Unterdrückung, geistlich, sozial oder politisch (auch kritische Satire in den ehemaligen sozialistischen Ländern): „O Tannenbaum, der Kaiser hat in’ Sack gehaun“, „Zehn kleine Meckerlein“ (Dachau-KZ-Lied).  Das aktuell-politische Tageslied mit agitatorischem Charakter ist, oft als satirische Parodie, kurzlebig. Das neu komponierte Chorlied der Arbeiter-Sängerbewegung und der nachfolgenden Chorbewegung schließlich zeigt eine Vielfalt bis hin zu professionell-artifiziellem Anspruch. Ein solcher in sinnliche Anschaulichkeit umsetzbarer Reichtum des Wissens ermöglicht neue Zugangsweisen zu den Genres des Arbeiterliedes.

 

Es ist ein normaler Weg in Volksliedern, wenn Melodien umtextiert werden (Kontrafaktur- oder auch Parodieverfahren). Melodien „wandern“, etwa von einer Sprache, Ethnie mit ihrer spezifischen Kultur zur anderen, und dabei verändert sich nicht nur der Text, sondern auch die musikalische Faktur, die vom neuen kulturellen Umfeld adaptiert wird. Exemplarisch vier Schritte, hier konkret in „Auf, auf zum Kampf“: vom Küchenlied bzw. der Moritat im früheren 19. Jahrundert zum Soldatenlied im I. Weltkrieg; das wird dann revolutionär „rot angestrichen“ und ist danach problemlos auch „braun anstreichbar“.

 

1 ...das Mäd-chen hátt’-- die Unschuld schon verloooren...

2 ...dem Kai-ser     Wíl---helm haben wir’s geschwoooren...

3 ...dem Karl Liebknécht, dem haben wir’s geschwoooren, der Rosa Luxemburg...

4 ...dem  A - dolf    Hít----ler    haben wir’s geschwoooren...

 

Dieses Geschwöre trottet rhythmisch dumpf vor sich hin und benutzt harmonisch-melodisch nur Klischees der Trivialmusik des Biedermeier, ist dadurch leicht zu missbrauchen. Ein solches Umstreichen haben die Nazis (der linke Strasser-Flügel der SA) auch mit Eisler versucht (aus dem Roten wurde der Braune Wedding) – das ist kläglich gescheitert. Schon die Rhythmik: Synkopen, off-beats aus dem verpönten Jazz, und dann der ominöse 5/4-Takt bei „Rot Front“ – ein Stolperstein bis zum heutigen Tage, der gern glatt gebügelt wird (bzw. den einige Ausgaben gar nicht haben). All das waren Maßnahmen Eislers gegen den dumpfen Trott des Marschierens. Parodie- und Kontrafaktur-Verfahren, mit Eingriffen auch in die Musik, sind bis heute probate Mittel des Aktualisierens.

 

Ein „Staatstragendes Arbeiterlied“: ein Widerspruch in sich. Aber wir haben es ja schon bei den rot angestrichenen Küchen- und Soldatenliedern gesehen: Widerständigkeit, Kritik und selbstbestimmte Selbstkritik (also nicht die stalinistische) konnten schon da auf der Strecke bleiben und einer blinden Affirmation geopfert werden. Brecht und Eisler zu Beginn der Dreißigerjahre im Lob der Dialektik („Die Mutter“): Wenn die Herrschenden gesprochen haben, werden die Beherrschten sprechen – na, und dann? – fragen hämisch alle, die mit Hegels und Marxens Herr-Knecht-Dialektik vertraut sind. Das Sichere ist nicht sicher – so wie es ist, bleibt es nicht. Das hatte in der Bundesrepublik, ebenso in der DDR eine eigentümliche Sprengkraft.

Als 1972 in (West-)Berlin der Hanns Eisler Chor gegründet wurde, gab das einige Impulse zu einer kritischen Rückbesinnung auf eine Tradition, die von Tabus eingezäunt war. Ich kam ein Jahr später dazu, und zwar als ein Komponist, der keine Lust mehr hatte, nur für kleine Zirkel der Avantgarde zu schreiben, außerdem als ein Komponist und Musikwissenschaftler, der durch 68 heftig politisiert war.

 

Von der Illusion, die Arbeitermusikbewegung erneuern zu können, habe ich Abschied nehmen müssen  – schon deswegen, weil es die Arbeitermusik-Bewegung nie gegeben hat, sondern sehr unterschiedliche Versuche, eine eigene Musikkultur zu schaffen, die mit den Qualitäten der großen „bürgerlichen“ Musik einigermaßen vergleichbar war. Und: man bekämpfte sich intern in den Zwanzigern und frühen Dreißigern so lang, bis die Nazis dann von außen eine Zwangsannäherung verursachten.

 

Was war seit den Siebzigern das große Anliegen? Kritisch, selbstkritisch, undogmatisch offen sein, trotzdem engagiert; immer fragen: Für wen mache ich was warum? Keine Automatismen des Musikbetriebs. Beim Eisler-Chor war das Singen von Arbeiterliedern eher die Ausnahme; die rot angestrichenen Küchen- und Soldatenlieder fehlten völlig im Repertoire. Kritische und engagierte Kunst zu produzieren, die auch von musikalischen Laien verstehbar und aufführbar war – das ist ein wesentlicher Motor gewesen.

 

Gibt es ein Arbeiterlied der Gegenwart? Nein, denn eine Arbeiterkultur existiert nicht mehr, doch sie kann, als in ihren Liedern bewahrte lebendig-widersprüchliche Geschichte, neu erlebbar gemacht werden. Darüber hinaus gibt es viele Äquivalenzen, im Bereich der Pop- und Rockmusik mit ihren vielen Facetten, in der Chorbewegung, im Kabarett, auf der Bühne, in Revuen, in den Medien. Die Friedensbewegung und die Anti-AKW-Bewegung brachten neue Impulse. Kritische Musik, politische Musik wird selbstverständlich immer noch geschrieben, nur nicht mehr in der Gattung „Arbeiterlied“. Aber: auch dieses Sichere ist nicht sicher. Das Lob der Dialektik lebt.

 

 

* Prof. Dr. Hartmut Fladt, aus Detmold, studierte dort Komposition, in Berlin Musikwissenschaft, Philosophie, Literaturwissenschaft; Promotion bei Carl Dahlhaus. Editor bei der Richard-Wagner-Gesamtausgabe (4 Bände); seit 1981 Professur (Musiktheorie) an der Universität der Künste Berlin, 1996-2000 auch an der Universität für Musik und darstellende  Kunst Wien. Habilitation Musikwissenschaft. Im Vorstand der Eisler-Gesellschaft, im Editionsbeirat der Hanns-Eisler-Gesamtausgabe, Mitglied des Hanns Eisler Chors Berlin. Ca. Achtzig Publikationen über Musik des 13. - 21. Jahrhunderts. Regelmäßige Rundfunk-Beiträge auch über Popularmusik und ihre Vermittlung. Komponierte Bühnenwerke, Ballett-, Kammer-, Chormusik, elektroakustische Musik, Lieder, Orchesterwerke, „angewandte Musik“, darunter auch Filmmusik, Kabarett-Musik.

 

 

** Die Initiative „Lieder der deutschen Arbeiterbewegung als immaterielles Kulturerbe“ hat im vergangenen November einen Antrag zur Aufnahme der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung in das immaterielle Kulturerbe Deutschlands beim Kultusministerium in Nordrhein-Westfalen eingereicht.

 

 

Vita und Werkverzeichnis

Hartmut Fladt, *7.11.1945 in Detmold.

Fladt studierte in seiner Geburtsstadt Komposition bei Rudolf Kelterborn, dann in Berlin Musikwissenschaft; Promotion (Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes)1973 bei Carl Dahlhaus. Er ist verheiratet mit der Musikwissenschaftlerin Ellinore Fladt. Ab 1974 war er Editor bei der Richard-Wagner-Gesamtausgabe; seit 1981 hat er eine Professur für Musiktheorie an der Universität der Künste Berlin, von 1996-2000  auch an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien; an beiden Orten entwickelte er die künstlerisch-wissenschaftlich-pädagogischen Studiengänge Musiktheorie (Ausbildung primär für die Hochschullehrer-Laufbahn). Betreuung von Promotionsvorhaben. Mitarbeit beim Mentoring-Programm zur Förderung von Hochschullehrerinnen.
Er wirkt mit im Editionsbeirat der Hanns Eisler Gesamtausgabe (HEGA).
Fladt war und ist Gutachter für die Studienstiftung des Deutschen Volkes, für den österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und in zahlreichen Promotionsverfahren und Berufungsverfahren, auch in juristischen Urheberrechtsverfahren.
Musikwissenschaftliche Veröffentlichungen über Musik des 15.-21. Jahrhunderts.
Er komponierte Bühnenwerke, Ballettmusiken, Kammermusik, Lieder, Orchesterwerke, elektroakustische Musik, Chormusik und zahlreiche Stücke „angewandter Musik“ (z.B. Filmmusik, Musikkabarett, Musik für Kinder, Politische Musik u.a. als Mitglied des Hanns Eisler Chores Berlin).
Für radio eins ist er wöchentlich Gast bei der Sendung „Musikanalyse“.

Auszeichnungen:
Karl-Hofer-Preis Berlin 1985, Carl-Orff-Preis 1994/95 beim europäischen Opernwettbewerb München (SALOMO).

VERZEICHNIS DER KOMPOSITIONEN (Auswahl)
T=Tonträger (LP, CD, MC), F=Funk/Fernsehen. Unterstrichen: Kompositionen für den Hanns Eisler Chor

Verlage:
Deutscher Verlag für Musik Leipzig (Breitkopf&Härtel) / Verlag Michael Ernst Pörksen (Berlin) / Florian Noetzel Verlag ("Ars Musica", Wilhelmshaven) / Büchergilde Gutenberg (Frankfurt am Main) / Selbstverlag

Etüde III für Klarinette Solo (1965)  - T/F -

Quartett für 3 Oboen und Englisch Horn (1965) - F -

Heterophonien für 2 Klarinetten (1966) - F -

Verfestigungen für 2 Klaviere (1966)

GEGEN DEN KRIEG für Gemischten Chor und 2 Klaviere (1974) - T/F -

GEGEN DEN KRIEG (Version für 15 Bläser 1981) - T -

14 Arten, einen Kanon zu beschreiben für Orchester (1975)

Von der Freundlichkeit der Welt. Gegenlied (Bertolt Brecht) für Gemischten Chor, Orchester und E-Gitarren (Berliner Festwochen 1976) - F -


Fest- und Gedenksprüche. Szenen und Kanons
für achtstimmigen gemischten Chor, 2 Klarinetten und Bassklarinette (1977) - T/F -

Bekenntnis zur Verwurzelung
(Erich Fried) für Chor und Orchester (1977) - T -


Einstellvers für 5 Vokalisten (1977)  - T -

Die Gedanken sind FREI für 15 Bläser, zugleich singend und sprechend (1978) - T -

OHNE ANGST LEBEN
(B.Brecht, N.Hikmet, E.Fried, P.Neruda) für Sprecher, Soli, 12fach geteilten Chor, Orchester, E-Violine, Rockgruppe (Auftragswerk der Berliner Festwochen, 1980) - T/F -

Amtliche Mitteilungen für Soli, Chor, Haushaltsgeräte, Müll, präpariertes Klavier (1981)

Das Lied der Deutschen (Roman Ritter) für Gesang und kleines Orchester (1981)  - T/F -

Die Abnehmer (Erich Fried) für 2 Stimmen und 3 Instrumentalisten (1983) - T/F -

Parade des alten Neuen (Brecht) für 12fach geteilten Chor, Schlagzeug, 2 Akkordeons, Klavier für 2 Spieler (1983)

Trostworte vom Amt für Sprecher, Chor, E-Piano, E-Gitarre (1983) - F -

Lied von den apokalyptischen Reitern (Volker.v.Törne) für Chor, 2 Klaviere und Schlagzeug (1983) - F -

Wer, wenn nicht wir (Michael Ernst-Pörksen) für Chor, 2 Klaviere und Schlagzeug (1983)
-T -


DER BUNKER, Filmmusik (1985)  - F -

NACHTGESÄNGE (Margarete Sudrawitz) für Schauspielerin, Sängerin, Kammerorchester, elektroakustische Klänge, Diaprojektion (1986/87)  - F -

CoroSophie und ClustroSophie für Schul-Chor plus Tonband bzw. Schulorchester (1989)

MARIE, Ballettmusik (abendfüllend) für Instrumentalisten, Gesang, Musikerschauspieler, Tonband (1989) - partiell T -

Drei Chansons auf Texte von Erich Fried (1989/90) -T -

LAMENTO (Karl Mickel) für Chor, Jazzband und Elektronik (1990) -T -

TanzLiebe, Ballettmusik für Orchester und elektroakustische Klänge (1991)

Anschläge für Sängerin, Sprecher, Tonband und Sampling Keyboard (1991)  - T/F -

Jiddischer Zyklus für Gemischten Chor a cappella (1994) - T -

SALOMO, KÖNIG DER KÖNIGE, OPER IN DREI AUFZÜGEN (Thriller, Circus, Märchen) Libretto Joachim Janzcak (1993-95; Auftragswerk beim Opernwettbewerb München)

Kästner-Epigramme für gemischten Chor und 25 Klangerzeuger (1996)

Das Brot des Dichters, Filmmusik (1997) - F -

Ach wir haben uns verloren, Szenen, Chöre, Lieder, Montagen für Sprecher, Soli, gemischten Chor, kleines Orchester (1998)

WIENERLIED für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier, zugleich sprechend und singend (2001) - T -

Deutsche Tänze/Nachspiel (Joachim Janczak/Hartmut Fladt) für Soli, Sprecher, gemischten Chor, kleines Orchester, live-Elektronik und Tonband (2002/03) - T/DVD -

Die Geister, die wir riefen, Szenen, Chöre, Bearbeitungen, Lieder, Montagen für Sprecher, Soli, gemischten Chor, Klavier, diverse Klangerzeuger (2004/05) - T -


BEZIEHUNGSWEISEN
. Texte und Musik für Sopran, Viola und Klavier (2005) - T –

Woodbury-Liederbüchlein (Hanns Eisler 1941). Bearbeitungen und kompositorische Kommentare für 2 Sprecher, Soli, Gemischten Chor und 5 Instrumente (2007)

Dazu:

Zahlreiche Bearbeitungen von Werken: Henry Purcell, Franz Schubert, Giuseppe Verdi, Arnold Schönberg - F -, Béla Bartók, Hanns Eisler  - T/F -;

kabarettistische Musik und Texte u.a. für die eigene Gruppe SÄNGER FREIES BERLIN  - T/F -, für die LeichtTonGruppe und Zweewittchen.

Maß nehmen an der Maßnahme

Versuch einer Einführung in Brechts/Eislers Lehrstück
Vortrag in der Volksbühne Berlin 2008

Ich erinnere mich noch ziemlich genau: es war das Jahr 1977, und der noch sehr junge Hanns Eisler Chor war von den Berliner Festwochen eingeladen, in der Akademie der Künste am Hanseatenweg ein Konzert mit Musik der 20er und frühen 30er Jahre zu machen. Dieses Konzert hatte dann den schönen Titel „Gegenlieder“. Selbstverständlich standen auch Werke von Eisler auf dem Programm, und als ein besonderes, heiß diskutiertes Wagnis gab es 4 Stücke aus Brecht/Eislers „Maßnahme“ – in der Originalbesetzung. Kurz zuvor war auf der ersten LP des Chors das „Ändere die Welt, sie braucht es“ in der Klavierversion eingespielt worden. Warum Wagnis? Da war das Aufführungsverbot (erst 20 Jahre später wurden Inszenierungen wieder zugelassen); das konnte, so argumentierten wir damals, ignoriert werden, da wir ja nur Einzelstücke kontextlos aufführten. Aber da waren auch die politischen Diskussionen: Linksradikales Lehrstück mit Parabel-Charakter? Frühstalinistische Zumutung mit verheerenden Konsequenzen?

Faszinierend für alternative Chöre in der Zeit der frühen 70er, die Abschied nehmen wollten von „Opas Chorgesang“ (jetzt sind wir selber Großeltern), war  auf jeden Fall Eislers Text „Einige Ratschläge zur Einstudierung der Maßnahme“ von 1932. Ich zitiere 3 der insgesamt 8 „Ratschläge“:
„1. Vor allem muß man brechen mit einem für einen Gesangverein typischen »schönen Vortrag«. Das gefühlvolle Säuseln der Bässe, der lyrische Schmelz, man kann auch manchmal »Schmalz« sagen, der Tenöre ist für die >Maßnahme< absolut unzweckmäßig.
2. Anzustreben ist ein sehr straffes, rhythmisches, präzises Singen. Der Sänger soll sich bemühen, ausdruckslos zu singen, d. h. er soll sich nicht in die Musik einfühlen wie bei einem Liebeslied, sondern er soll seine Noten referierend bringen, wie ein Referat in einer Massenversammlung, also kalt, scharf und schneidend.
7. Jeder Sänger muß sich über den politischen Inhalt seines Gesanges völlig im klaren sein und ihn auch kritisieren.“

Was nun sollte auf diese Weise gezeigt, ver-deutlicht werden? Eisler selbst hatte für die Uraufführung im Dezember 1930 einen knappen Text entworfen:
„Das Stück >Die Maßnahme< hat die Form einer Gerichtsverhandlung. Der Chor stellt eine Kontrollkommission dar, vor der sich vier Agitatoren zu verantworten haben, weil sie auf besondere Art bei ihrer revolutionären Tätigkeit einen Genossen verloren haben. Fünf Agitatoren der chinesischen Sowjetrepubliken haben in Süd-China agitiert, und zwar als Südchinesen verkleidet. Der jüngste von ihnen begeht eine Reihe von Fehlern, welche in einzelnen Szenen vorgeführt werden. Am Schluß gefährdet er die illegale Arbeit und kann nur noch durch freiwilligen Tod verhindern, daß die Arbeit seiner anderen Genossen nicht völlig vernichtet wird. Das Stück zeigt, daß es bei der revolutionären Tätigkeit Handlungen von solcher Schädlichkeit gibt, daß derjenige, der sie begeht, dem Proletariat eventuell nur noch durch sein Verschwinden helfen kann.“

In der Uraufführungs-Rezension der „Roten Fahne“ heißt es:
„Vier bolschewistische Agitatoren, die in China illegal gearbeitet haben, rechtfertigen sich vor dem Parteigericht. Sie mußten einen jungen chinesischen Genossen erschießen (?), weil er, trotz ehrlicher revolutionärer Begeisterung, trotz der besten Absicht, die Bewegung gefährdet hat, indem er mitleidsvoll sentimentale Regungen über die revolutionäre Erkenntnis gestellt hat. Wir halten diese ganze Konzeption für falsch und unmarxistisch. Doch darüber wird man noch mit Brecht kameradschaftlich zu sprechen haben.“ (Alfred Kemény) Brecht hat 1931 mit einigen Änderungen auf Kritikpunkte reagiert.

Ich möchte zum Kernpunkt, zum Fokus der „Maßnahme“ kommen. Da ist also jemand getötet worden. Unter scheußlichen Umständen, auf eine scheußliche Weise. Aber dieser Tod war objektiv notwendig, um ein höheres Ziel nicht zu gefährden. Und dieses Ziel ist – immerhin – die Befreiung, die Erlösung der Menschheit. Der junge Getötete war mit seiner Tötung einverstanden. Aber im Moment des Todes wurde auch er noch einmal von existentiellem Zweifel am Sinn dieses freiwilligen Opfertodes gepackt, und er rief: „Eli, Eli, lama asabthani“ – „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Bin ich jetzt in die falsche Geschichte geraten? Karfreitag war doch vorige Woche? Nein, bis auf das „Eli, Eli“ bin ich immer noch in der „Maßnahme“. Und ich hoffe, all die „christologischen“ Wurzeln der Konzeption Brechts, die viel weiter und tiefer gehen, als man es normalerweise für möglich hält, deutlich machen zu können. Und ich hoffe ebenso, zeigen und hörbar machen zu können, wie Eisler in dieser Konzeption auf Bach rekurriert, primär auf die Johannes-Passion.

Die Ritter der Intertextualität haben ja bisher immer auf Brechts Luther-Deutsch abgehoben – was völlig korrekt ist; berühmt ja auch Brechts Antwort auf eine Umfrage der Zeitschrift „Die Dame“ von 1928 nach dem für ihn stärksten literarischen Eindruck: „Sie werden lachen, die Bibel.“  Das ist verblüffend, aber noch viel zu eng. Es sind Denkfiguren, Motive, Topoi, die aus einer barbarischen Zeit vor 2000 Jahren in eine ebenso barbarische Gegenwart katapultiert wurden. Und allen Beteiligten war 1930 noch nicht klar, zu welchen vollends unbegreiflichen barbarischen Auswüchsen der deutsche Faschismus und der Stalinismus kurze Zeit später schon fähig waren. Immer, wenn ich die Maßnahme lese oder höre, verzweifle ich. So viel atemberaubend Großartiges und Tiefes, und gleichzeitig ein solcher abstrakt puristischer Rigorismus. Aber auch, wenn ich die Bergpredigt lese oder die Johannes- oder Matthäuspassion höre, verzweifle ich. Ich lese und höre die ungeheuerliche Verbrechensgeschichte des Christentums unweigerlich immer mit (und empfehle an dieser Stelle die erneute Lektüre der Publikationen von Karlheinz Deschner), so wie ich im Falle der „Maßnahme“ die ungeheuerliche Verbrechensgeschichte des Leninismus und Stalinismus mitlese und mithöre.

In den Notowicz-Gesprächen versuchte Eisler, auf der einen Seite geschichtliche Tatsachen nicht zu leugnen, andererseits sich mit einer eleganten Volte zu retten:

„N: Das ist so ein Problem. „Die Maßnahme" ist ein Werk, das zu hören sehr wichtig wäre.
E: Ja, enorm, ich bin auch sehr dafür, das zu machen.
N: Aber jetzt diese Fragestellung!              
E: Es ist ein Parabelstück.                       
N: Sie (die Fragestellung) ist doch, etwas scharf gesagt, leicht versnobt, nicht.
E: Nein, gar nicht. Leider . . . entschuldige, die Erfahrungen zeigen, das ist in keiner Weise versnobt, da die Wirklichkeit leider noch viel über die Parabel herausgegangen ist.
N: Ja schön. Ich wollte sagen, was ich meine. Wie können unsere Menschen das verstehen, junge Menschen heute? Sie können das verstehen als ein Stück Geschichte. (...)
E: Aber das ist doch eine Parabel! Dann darfst Du auch nicht die Andersen-Märchen lesen, darfst keine Parabelstücke lesen, auch von Shakespeare nicht, weil Du glaubst, das ist die . . . Das ist doch ka Gerhart Hauptmann, wo ein Mensch stirbt. Der stirbt doch gar nicht, der junge Genosse, der steht auf der Bühne .. . der wird doch nicht erschossen oder so etwas.
N: Nein, dort irrst Du.
E: Er verliert gewissermaßen sein Gesicht, wie die Chinesen gesagt haben, er verliert sein Gesicht. Das Ende ist ja doch ganz uninteressant. In Wirklichkeit soll gezeigt werden politisches Verhalten. Und das war ganz neuartige deutsche Literatur. Außerdem gehört es zu den klassischen Versen, die Brecht geschrieben hat. Dinge wie „Ändere die Welt, sie braucht es" gehören einfach zu den großen Dichtungen des Jahrhunderts und werden sehr lange dauern.“

Das Dilemma bleibt, Parabel hin, Parabel her. Das Dilemma bleibt auch in der Konstruktion des Christentums, wie ein schrecklicher Witz zeigt, den Arthur Schopenhauer gern erzählte:
"Wissen Sie schon das Neueste?" - "Nein. Was ist passiert?" - "Die Welt ist erlöst." - "Was Sie sagen." - "Ja. Der liebe Gott hat Menschengestalt angenommen und sich in Jerusalem hinrichten lassen. Dadurch ist nun die Welt erlöst und der Teufel geprellt." - "Ei, das ist ja ganz scharmant." Witz Ende.

Ungeachtet dieser nicht sehr subtilen, aber plakativen Gemeinheit möchte ich, auf den Spuren von Johannes Brahms, dem „bibelfesten Ketzer“, wie er sich selbst bezeichnete, meine christologischen und passionsmusikalischen Referenzen ausbreiten. (Dass, in der Nachfolge von Brechts Lehrstücken Der Jasager und Der Neinsager, auch Elemente des japanischen No-Theaters beteiligt sind, ist richtig; sie erscheinen aber in der Maßnahme eher marginal.)

Wir haben den grundlegenden Topos des erlösenden Opfertods, der ja auch in anderen Kulturen weit verbreitet ist. Dann finden wir aber auch das wichtige Motiv der „Auslöschung“. Wir hören endlich ein Klangbeispiel.

TRACK 1         DIE AUSLÖSCHUNG (1’39’’)

Was, um Himmels willen, ist daran biblisches Motiv (biblische Sprache ist ja allgegenwärtig, z.B. „...also zu verstecken den Lebenden und den Toten...“)? Zwei Blicke ins „Matthäus-Evangelium“: Die Jünger sind aufgefordert, alles aufzugeben, auch ihre Identität. „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst... Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren.“ Und Christus dringt für sich selbst auf solche „Auslöschung“, im Dienste der Idee, des Erlösungswerks: „Da bedrohte er seine Jünger, dass sie niemand sagen sollten, dass er Christus wäre.“

Nächster Punkt: da haben wir den berühmten Bergpredigt-Topos der Dialektik von Erniedrigung und Selbst-Erniedrigung und eschatologischer Erhöhung. „Wer den Verzweifelten hilft, der gilt als Abschaum der Welt.“ – „ Zu verkünden die Botschaft den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie befreit sein sollen (...) und den Zerschlagenen, dass sie unabhängig und ohne Unterdrückung sein sollen.“ – „ Auf unserer Stirne steht, dass wir gegen die Ausbeutung sind.“ Was war Lukas 4, was war die „Maßnahme“, was Matthäus? „Alsdann werden sie euch überantworten (...) und werden euch töten. Und ihr werdet gehasst werden.“ –„Wir dürfen nicht gefunden werden.“ – „Dann werden viele der Anfechtung erliegen und werden sich untereinander verraten und werden sich untereinander hassen.“ Hier mischte sich die „Maßnahme“ mit Matthäus.

Wir kommen zum „Song von der Ware“. Ich möchte ihn nicht analysieren – das geschieht nachher durch Tobias Fasshauer, den exzellenten Kenner des Song-Stils bei Weill und Eisler. Aber wenn Sie dieses „Leiblied“ des Händlers jetzt hören, dann denken Sie an Jesus und ein weiteres biblisches Motiv: „Und er ging in den Tempel hinein und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer und stieß um der Geldwechsler Tische. ... Ihr macht eine Räuberhöhle draus.“ Um Schopenhauer zu paraphrasieren: die Welt als Ware und Verstellung. Auch der Mensch ist Ware: ich weiß nicht, was ein Mensch ist. Ich kenne nur seinen Preis.

TRACK 2        SONG VON DER WARE  (bis 1’30’’)

Diesem Song geht das „Lied des Händlers“ voraus. Das möchte ich als ein erstes Beispiel dafür nehmen, wie Eisler strukturelle und formale Vorgaben aus Arien von J.S.Bach, z.B. aus der Johannespassion, übernimmt, aber selbstverständlich individualisiert. In den Arien wird bei Bach gleichsam die Zeit angehalten, wird die erzählte Geschichte unterbrochen; die Arien repräsentieren den Typus der lyrisch-innerlichen Reflexion, des subjektivierten Nachdenkens, und zwar im riesigen Zeitensprung, in der neugedichteten Sprache aus Bachs Gegenwart. Und die Arien beginnen in der Regel mit einem instrumentalen Ritornell, also einem wiederkehrenden Teil, der auch Grundlage für die Gestaltung der Singstimme ist. Ein solches Ritornell hat ein oder zwei konzertierende Instrumente über dem sogenannten Generalbass, also akkordisches Tasteninstrument plus Bass-Stimme, in unserem Falle Orgel plus Fagott. Wir hören, aus der Johannespassion, „Von den Stricken meiner Sünden“, von einem männlichen Altus gesungen; die beiden konzertierenden Instrumente sind 2 Oboen.

TRACK 3        VON DEN STRICKEN MEINER SÜNDEN (bis 1’08’’, Kadenz)

Eisler charakterisiert nun den Händler mit einer pervertierten Arie. Wir hören ins Ritornell hinein.

TRACK 4        LIED DES HÄNDLERS (38’’; PAUSE drücken)

Der Generalbass ist da – das Klavier; die konzertierenden Instrumente auch, Trompete und Posaune, allem Feierlichen Hohn sprechend, gestopft, Wah-Wah-Dämpfer, Flatterzunge – eine Groteske. Wir hören weiter: der Händler übernimmt ganz regelgerecht das Motiv der Trompete, und die beiden Instrumente haben „konzertierende“ Kontrapunkte zur Stimme. Dass Eisler den formalen Typus der da-capo-Arie nicht einfach reproduziert, versteht sich von selbst. Er wird überlagert von Prinzipien des variierten Strophenliedes.

TRACK 4         LIED DES HÄNDLERS (FORTSETZUNG) (38’’-1’27’’)

Brecht und Eisler rühmten ja Bach als Urvater des epischen, gestischen  Komponierens. Und auch da war besonders die Johannespassion beispielgebend. Ich zitiere aus den Bunge-Gesprächen:

„Sie wissen, die Theorie der gestischen Musik geht bei Brecht in seine Jugend zurück. »Das Gestische« ist ja eine der genialen Entdeckungen von Brecht. Er hat das genauso entdeckt, wie der Einstein zum Beispiel die berühmte Formel. Das war ja da. Die große Literatur von Homer bis Shakespeare und darüber hinaus: wo die Literatur groß ist, ist die Sprache gestisch. Wo Musik groß ist, zum Beispiel bei Bach, ist sie gestisch. Damit meint Brecht einfach, daß Musik mitproduziert das Verhalten des Sängers und des Zuhörers.
 (...) Über den Begriff des Gestischen in der Musik kann ich Ihnen in einem solchen Gespräch nicht genügend aussagen. Das müßte praktisch vorgezeigt werden.
Zum Beispiel: Ich spielte Brecht immer wieder vor — auf seinen Wunsch — das Rezitativ aus der Johannespassion des Evangelisten. (...) »Jesus ging mit seinen Jüngern über den Bach Kidron. Da war ein Garten. Darein ging Jesus und seine Jünger.« Hier wird also die Bibel so erzählt. Übrigens: der Tenor ist so hoch gesetzt (...) Ausdruck ist unmöglich, also Schwulst, Gefühlsüberschwang. Es wird referiert.
Das heißt, es wird auch das Zeigen des Vorlesers mitgebracht. (...) »Jesus ging mit seinen Jüngern über den Bach Kidron.« Also die Lokalität des Baches wird genau bezeichnet. Das empfand Brecht als ein Musterbeispiel gestischer Musik.“
Wir hören das jetzt.

TRACK 5        JESUS GING MIT SEINEN JÜNGERN

Welche Ebenen mischen sich hier, wie ist Distanz, Verfremdung gemacht (darf man das bei Bach überhaupt sagen?), wie ist dennoch die Ebene des emotionalen Angerührtseins nie ausgeschaltet? Der Evangelist referiert und erzählt. Jesus hat, wie zuvor und später andere agierende Subjekte der Handlung auch, eine gesungene wörtliche Rede: Tribut an die Gattung Oper. Vielfältig die Rolle des Chores: er ist hier Agierender, eine unmittelbar und hitzig ins Geschehen eingreifende „Schar“; das gilt auch später für die sogenannten „Turba“-Chöre der großen Pilatus-Szene und im Umfeld der Kreuzigung. Der „Chor“ kann aber auch, im Gegenteil, als ein Kommentierender, als ein Verkündender der subjektiv-allgemeinen und der objektivierten Wahrheit eingesetzt werden.

Wie knüpft Eisler in der „Maßnahme“ an solchen Verfahrensweisen an? Mir geht es in erster Linie darum, was Eisler strukturell von Bach gelernt hat, und erst in zweiter Linie darum, was er von Bach übernommen hat – in Melodik, Harmonik, in musikalischen Gesten, Tonfällen; das gibt es aber auch, und ich möchte es ebenfalls demonstrieren.

Zunächst noch ein wenig weiter aus den Bunge-Gesprächen:
„Sie können genau solche Beispiele finden aus Monteverdi oder aus der ältesten Kirchenmusik. Ich muß übrigens daran erinnern, wenn sich dafür jemand interessiert — ich glaube zwar, ich rede hier für Hörer in hundert, zweihundertfünfzig Jahren —, bei Hegel nachzulesen in seiner Ästhetik über den Begriff der Objektivität und der Subjektivität in der Musik. Wobei er zum Beispiel unterscheidet: Ein »cruzifixus est« ist in gewissen Messen deswegen objektiv komponiert, weil der Vorgang als solcher dargestellt ist. (Er wird dem Zuhörer vorgemacht — der Kreuztod.) Dagegen: Subjektivität in der Musik ist, wenn der Hörer mitempfindet. Nun, das sind gewiß Feinheiten. Aber wir Marxisten lieben ja Feinheiten. Es hat sich nur bei unsern Marxisten nicht immer herumgesprochen.“

Die „Objektivität“ gerade des symbolischen Komponierens schließt das Gefühl nicht aus, löst es aber von den Unmittelbarkeiten des Mitfühlens und Mitleidens in der Richtung einer „vernunftbegründeten Empathie“. Und da haben wir gerade im Passions-Tonfall mancher Partien der „Maßnahme“ wunderbare Vorbilder bei Bach. Schon in der orchestralen Introduktion komponierte Eisler eine verblüffende Allusion des Eingangschors der „Matthäuspassion“, sogar in identischer Tonart. Ich möchte am Schluss des Vortrags auf Gemeinsamkeiten von „Ändere die Welt, sie braucht es“ und dem zentralen Choral „Christus der uns selig macht“ aus der „Johannespassion“ aufmerksam machen.

Aber zunächst einmal: wie werden Prinzipien des Ineinandergreifens verschiedener Ebenen, Perspektiven, Erzählweisen, Haltungen/Gesten, Zeitebenen bei Eisler realisiert? Ich habe die Episode „Der Stein“ ausgewählt. Wir hören hinein.

TRACK 6         DER STEIN (3’15’’)

Zur Erinnerung: bei Bach finden wir den epischen, gestisch erzählenden Bericht des Evangelisten, wir finden fünf dramatisch agierende Subjekte mit Rede und Gegenrede; es gibt den Chor als hitzig agierende Menge; aber es gibt ebenso das aus-der-Zeit-Treten der Arien und Ariosi mit der Funktion lyrischer Reflexion – mit der Sprache und aus der Perspektive der unmittelbaren Gegenwart Bachs; ähnlich gegenwartsorientiert auch die anderen Funktionen des Chors, die das subjektiv-Allgemeine oder das objektiv Gültige repräsentieren, sei es in Eingangs- oder Schlusschören oder den zahlreichen interpolierten Chorälen. Bachs „Gemeinde“ tradiert den biblischen „Ecclesia-Topos“, und in der „Maßnahme“-Konzeption wächst diese Rolle dem Kontrollchor zu, der „Partei“.

Von sehr ähnlichen Gesamtkonstellationen gehen nun auch Brecht und Eisler aus, nur: diese Vielfalt der Ebenen wird noch einmal gebrochen und reflektiert durch die große Meta-Ebene der a-posteriori-Darstellung von Aktionen, Haltungen, Gefühlen, Konflikten, Widersprüchen; all das wird verhandelt, diskutiert, bewertet.
Uns begegnet also ein Lehrstück als, paradox formuliert, Darstellung einer kritischen Verhandlung von Darzustellendem und Dargestelltem. Wunderbar bleibt, wie, trotz aller gebrochenen Verfremdung, sich auf eine ganz besondere Weise immer wieder der Zauber der theatralischen und musikalischen Unmittelbarkeit einstellt – die Imagination der kahnschleppenden Kulis ist für mich, dank der Musik, viel eindringlicher als jede naturalistische Szene. Und der Chor mit seinem „Zieht rascher, die Mäuler warten auf das Essen“ ist, in der Konstruktion Brechts, Kommentar von außen, aber Eisler bringt zu dieser Kommentar-Funktion gleichzeitig noch den Gestus der unmittelbar eingreifenden Aktion. Das „Zeigen“ und die Bach’sche „vernunftbegründete Empathie“ ergänzen sich hier zu einer neuen Qualität.
 
An dieser Stelle möchte ich noch eine kleine Interpolierung in der Richtung machen, dass ich die Vielfalt der eingesetzten musikalischen Mittel zusammenfasse. Worauf Eisler strikt verzichtet, ist, im musikalischen Material, der Rekurs auf die – ja auch bei ihm selbst zuvor entwickelten – „avantgardistischen“ Konstellationen wie die Zwölftontechnik. Die Musik ist dur-moll-tonal, mit Rückverweisen auf Bach und die Wiener Klassik, primär aber modal mit emanzipierten Dissonanzen. Neu aber sind die Verfahrensweisen von Schnitt und Montage, wodurch disparateste Elemente erkenntnisträchtig aufeinanderprallen, ineinander geraten: der AgitProp-Chor und die verfremdete Arie, schlagzeugbegleiteter Sprechchor und Choraltypus, Kampflied und Rezitativ/Arioso, Ballade bzw. Song-Typus mit U-Musik und Jazz-Elementen und Bach’scher Kontrapunkt, primär der Typus der 3stimmigen Invention und der Triosonatensatz mit verfremdetem „Generalbass“. (Das war jetzt fürs gute musiktheoretische und musikwissenschaftliche Gewissen.)

Zum Abschluss möchte ich das von Eisler in den Bunge-Gesprächen ja so gerühmte „Ändere die Welt, sie braucht es“ untersuchen. Hier wird auf Strenge, auf Allgemeingültigkeit gezielt, auf die große Aussage, die eine objektivierte Trauer mit reflektierter Gesetzmäßigkeit verbindet. Und da bietet sich als Referenzebene der große mollare Passionschoral Johann Sebastian Bachs an. Übrigens knüpft Eisler ein Jahr später in der Musik zur „Mutter“ genau da noch einmal an, und zwar in der „Grabrede“. Warum Trauer, warum nicht Kampfes- und Siegesgewissheit? Wieder greift die christologische Dialektik von Erniedrigung und Selbsterniedrigung und eschatologischer Erhöhung und Erlösungs-Gewissheit (ich weiß, dass mir viele Strenggläubige beider Glaubensrichtungen den Begriff „eschatologisch“ in diesem Kontext übel nehmen; ich kann damit leben). „Welche Niedrigkeit begingst du nicht, um die Niedrigkeit auszutilgen? Versinke in Schmutz, umarme den Schlächter, aber ändere die Welt, sie braucht es! Wer bist du?“ Wir hören den Beginn von „Ändere die Welt“.

TRACK 7        ÄNDERE DIE WELT, SIE BRAUCHT ES (57’’)

Ich möchte nun auf den Choral „Christus, der uns selig macht“ verweisen, der im Zentrum der Johannespassion steht. Auch, wenn ich nicht weiß, ob hier ein bewusstes Anknüpfen Eislers vorliegt: Tonfall, Haltung, die objektivierte Trauer sind erstaunlich ähnlich (übrigens ist es für Phänomene der Intertextualität gar nicht notwendig, dass planmäßig zitiert oder alludiert wird; Eisler hat den Choral sowohl als Bestandteil der Passion oft rezipiert als auch im Tonsatz- und Analyseunterricht bei Arnold Schönberg kennen gelernt). Achten Sie beim Hören nun auf melodische Gesten: sie sind deszendent-trauernd, wie bei Eisler, und sie sind im phrygischen Modus, also der alten Leidens- und Trauer-Tonart. Und der Text? „Fälschlich verklagt, verlacht, verhöhnt und verspeit“ – und diese Erniedrigung und Selbsterniedrigung ist die Basis der Erlösung.
TRACK 8        CHRISTUS, DER UNS SELIG MACHT (1’02’’)

Wir hören jetzt noch einmal „Ändere die Welt, sie braucht es“, ganz.

TRACK 7       ÄNDERE DIE WELT, SIE BRAUCHT ES (2’35’’)

Der geopferte Jesus Christus, Judas (dessen „Verrat“ ja das Christentum überhaupt erst ermöglichte, und der mit Selbstmord büßte), Petrus, Pilatus, „die Jüden“ – arme willenlose Marionetten im göttlichen Heilsplan, kodifiziert im Neuen Testament?
Der geopferte junge Genosse, die 4 Agitatoren, der Kontrollchor, „die Partei“ – arme willenlose Marionetten im Heilsplan historisch-materialistischer dialektischer Gesetzmäßigkeit, kodifiziert bei „den Klassikern“?
Wie weit entfernt oder wie nah sind die Rechtfertigungs-Strategien von Opferung und Selbstopferung im Dienste der „Sache“, der „Idee“ im gegenwärtigen radikalisierten Islamismus? Welcher Heilsplan ist da wo kodifiziert?

Es fällt mit schwer, diese Gedanken konsequent zu Ende zu denken; aber ich fürchte, das muss sein. Doch nicht mehr heute.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Musik verstehen

Prof.Dr.Hartmut Fladt
Universität der Künste Berlin

Vortrag Lange Nacht der Wissenschaften (ARD Hauptstadtstudio) 9.6.2007:

In jedem Menschen löst gehörte Musik Gefühle aus. Was wir aber fühlen, das hängt grundsätzlich von zwei Voraussetzungen ab:
  • einerseits von der Musik selbst; sie hat bestimmte Charaktere, ein bestimmtes Tempo, bestimmte Klangfarben und Lautstärken, bestimmte Affekte, und sie hat – im Falle von Vokalmusik – einen Text mit einer bestimmten Aussage. Wenn wir es bei dieser einen Voraussetzung beließen, dann würden wir alle bei identischen Musikstücken das Gleiche empfinden. Aber jetzt kommt die zweite Voraussetzung ins Spiel:
  • das ist die subjektive Individualität der Musikhörer; und jeder Mensch hat so unterschiedliche kulturelle und individuelle Vorbedingungen, dass es – bei identischer Musik – zu ziemlich großen Unterschieden im Erleben kommen kann.

In seine „Maximen und Reflexionen“ formulierte Goethe einen wunderbaren Satz:
Es hört doch jeder nur, was er versteht.
Das Hören, das Wahrnehmen, das Rezipieren benötigt einen „verstehenden“ kategorialen Apparat, gestützt auf reichhaltige Erfahrung, auf sinnliche Anschauung und auf Wissen. Erst dann kann von Hören als sinn-bildender und sinn-voller aktiver Tätigkeit überhaupt die Rede sein.
Gern berichte ich in diesem Zusammenhang von einem  japanischen „Ur-Erlebnis“: Ich sitze im No-Theater, das ich interessiert zur Kenntnis nehme, ohne den Bedeutungs-Code von theatralischen und musikalischen Elementen zu kennen (also Instrumentenfarbe, melodische Wendungen, Rhythmus, Sprachtonfälle etc.); ein Japaner neben mir zuckt bei bestimmten Ereignissen in der Musik zusammen, leidet mit, bekommt Schweißausbrüche – ich sitze da und verstehe (fast) nichts. Aber immerhin: ich kann mir Wissen aneignen, und mit diesem Wissen kann ich Gefühle neu fühlen.

Grundsätzlich: Wissen verändert Gefühle genau so wie Gefühle Wissen verändern. Und ich höre No-Musik jetzt anders, weil ich sie adäquater verstehe. Gern berufe ich mich auf Hegel, also den Philosophen, der hier ein paar hundert Meter weiter gelehrt hat (und zu dessen Zuhören u.a. Heine und Mendelssohn gehörten); bei ihm gibt es in der Logik die Kategorie der „zweiten Unmittelbarkeit“, also eine Unmittelbarkeit, die durch Wissen hindurchgegangen ist. Auch im Bereich von Blues und Jazz, von Rock- und Pop-Musik höre ich anders, wenn ich mir spezifisches neues Wissen angeeignet habe und nicht in meinen Vor-Urteilen befangen bleibe. Musikhören tendiert fast naturwüchsig zur sogenannten Intentionalität: ich projiziere in ein gehörtes Stück alle meine gebündelte Erfahrung hinein – ich glaube mich frei beim Hören, bin aber heftig konditioniert.

Gern denke ich immer wieder über das Problem von sogenannten "anthropologischen Konstanten" nach; denen spürt man ja gern wie einem Phantom nach (Menschen sind wir alle...). Viel wichtiger ist für mich die "Gewalt der kulturellen Prägungen", und zu diesen Prägungen gehören die geschichtlich und gesellschaftlich sich entwickelnden Wahrnehmungsweisen und Beurteilungsweisen. Was uns ganz "natürlich" scheint und Ausdruck unmittelbaren Gefühls, ist in der Regel vielfach konditioniert. Und so ist ja "Verständlichkeit" in allen Künsten überhaupt nur möglich: die Kunst greift auf ein vorgewusstes und auch unbewusst gespeichertes System von erlebten, gefühlten, gewussten und gedachten Erfahrungen zurück. In jedem Fall ist Wissen in jeder KUNST immer zugleich ein SINNLICHES WISSEN.

Ich möchte jetzt die musikalische Demonstration an der Jahrtausende alten (und erstaunlicherweise auch interkulturellen) Lehre von den Vier Temperamenten und den damit verbundenen menschlichen Affekten orientieren. Ich will zeigen, wie sie z.B. auch bei den Beatles noch wirksam sind. Wichtige Voraussetzungen dafür sind in unserem Tonsystem gegeben, das ein sehr künstliches System ist, das uns aber als natürlich erscheint, weil es seit etwa 2500 Jahren im Gebrauch ist – in unserer Kultur. Wichtig ist auch die Entwicklung von Dur und Moll mit seinen Gefühlszuordnungen (das gibt es bei uns erst seit dem späten 16.Jahrhundert und in anderen Musikkulturen gar nicht). Melodische und harmonische Wendungen, Rhythmen, Figurationen, die seit ca. 500 Jahren üblich sind, sind bis zum heutigen Tage verständlich, auch wenn sie im „modernen Gewande“ versteckt sind.

Stichworte für das Gespräch:

50 Jahre Beatles – 40 Jahre Sgt. Pepper

1. MICHELLE (insgesamt ca. 8 min)                              f-Moll
Subjektive Melancholie, bitter-süß; „Wechselbad“ von Moll und Dur.
So wird schon um 1600 der affectus amoris beschrieben – schwankend zwischen „himmelhoch jauchzend“ und „zu Tode betrübt“.
Wohl das einzige Stück der Beatles, in dem ein Satz auf Französisch gesungen wird – die englische Übersetzung kommt aber direkt vorweg.
Auf Deutsch: Michelle, meine Schöne, das sind die Worte, die so wunderbar zusammen gehören.
*TAKE 1:   0 – ca. 30’’
Hier wird ein musikalischer Topos verwendet, eine Redewendung, die bis zum heutigen Tage unmittelbar verständlich ist: ein chromatisch abwärts gehender Bass in Moll, ein „Klage-Bass“, auch Lamento-Bass genannt.
*Spielen und erläutern am Klavier
Wunderbares Vorbild bei J.S.Bach, in der Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“: gleiche Tonart f-Moll, gleicher Bass, noch trauriger; Seufzer in der Melodie.
*Spielen und erläutern am Klavier
Und nun das Wechselbad der Gefühle: der Name Michelle hat einen plötzlichen Dur-Akkord, freundlich, hell – es könnte alles gut werden. Und dann?
*Spielen und erläutern am Klavier (Quintfallsequenz – Schmerzensakkord)
Woher haben die Beatles das? Kannten sie die entsprechenden Stücke von Bach, Mozart, Schubert?
Möglich, ob nun bewusst oder unbewusst, gehört und „gespeichert“.
Solche „Topoi“, musikalische Redewendungen sind so verbreitet gewesen, dass sie auch im Jazz und der anspruchsvoll Popmusik gebraucht wurden.
Rolle von George Martin; Kreativität – Können und Wissen.
*EINSPIELUNG MICHELLE  2’ 40’’

2. YELLOW SUBMARINE (insgesamt ca. 3’ 30’’)                              Fis-Dur
Jetzt kommen wir zum sanguinischen Temperament; fröhlich, heiter, „leichtes Blut.
Ungetrübtes Dur, fließendes Tempo: YELLOW SUBMARINE.
*TAKE 2:  0 – ca. 45’’
Das hat ja richtige Kinderlied-Qualität, besonders im Refrain; die Beatles benutzen sogenannte „Pentatonik“. Da das Stück in Fis-Dur steht, sind das auf dem Klavier nur die schwarzen Tasten.
*Spielen und erläutern am Klavier
Zum fröhlichen, unbeschwerten Charakter gehört natürlich auch der Rhythmus dazu: im Songbook steht „March tempo“ drüber, aber „Marsch“ ist nur ein Teil der Wahrheit: YELLOW SUBMARINE benutzt die Tradition der englischen „Jigg“, das ist ein Seemanns-Tanzlied im 6/8 oder 12/8 – Takt.
*Demonstration Klatschen/Sprechen

3. REVOLUTION (insgesamt ca. 2’ 30’’)                                                C-Dur
Das nächste Temperament wäre das cholerische. Das ist zornig und jäh, hitzig; da kommt einem die Galle hoch – ja, und das liegt den Beatles offensichtlich nicht so. Da muss man richtig lange suchen. Bei einer Punk-Band oder im Hip-Hop gäbe es gar keine Probleme, im Gegenteil: man müsste sehr lange suchen, um etwas Melancholisches zu finden oder Phlegmatisches. Ich bin aber doch fündig geworden, z.B. REVOLUTION.
*TAKE 3:  0 – 8’’
Das fängt ja richtig aufmüpfig an, mit verzerrter Klangfarbe, einem Schrei, sich einbohrenden Tonrepetitionen, gewalttätigem Schlagzeug; aber dann?
*TAKE 4:  0 – ca. 33’’
Ja, jetzt sind Gitarren und Bass zwar weiter verzerrt, aber wir hören einen ziemlich moderaten Rhythm and Blues. Und nur ganz punktuell kommt die Aufmüp-figkeit des Anfangs wieder.
Fazit: Beatles und das Cholerische – das geht nicht so recht zusammen. Da wächst auch nicht zusammen, was nicht zusammen gehört.

4. ELEANOR RIGBY (insgesamt ca. 4’)                                                 e-Moll
Hier kommt die objektivierte Form der Melancholie zum Ausdruck;
es ist traurig, aber zugleich nachdenklich und tiefsinnig (mir gehen übrigens wie bei YELLOW SUBMARINE die Bilder aus dem Edelmann-Zeichentrickfilm nicht aus dem Kopf).
Oh, look at all the lonely people – mit Streichquartett! Hallo George Martin!
*TAKE 5:  0 – ca. 45’’
Ein Stück – natürlich! – in Moll, in e-Moll; im Refain wieder die schon in MICHELLE gehörte Lamento-Linie, aber: versteckt in einer Mittelstimme, und variiert.
*Spielen und erläutern am Klavier
Auch die Anfangs-Melodie steht für sich schlicht in e-Moll; aber sie wird raffinierterweise mit C-Dur harmonisiert, mit der VI.Stufe von e-Moll – und da haben wir wieder dieses schöne Dur-Moll-Wechselbad. Für die Fachleute: da erklingt jetzt C-Lydisch.
*Spielen und erläutern am Klavier
Und wenn wir schon bei den alten Kirchentonarten sind: die Strophe steht im wunderbaren e-Dorisch. Als Paul McCartney in einem Interview gefragt wurde, warum er denn die alten Modi Äolisch und Dorisch benutze, war seine Gegenfrage: Hä? – Man muss, um bestimmte Dinge in der Musik zu machen, nicht unbedingt ihre Namen wissen. Um grammatikalisch korrekt zu sprechen, muss ich den Unterschied von Futur I und Futur II nicht benennen können.
*Spielen und erläutern am Klavier

5. ALL YOU NEED IS LOVE (insgesamt ca. 8’)                                  G-Dur
Das ist die ruhig-gefasste, fast philosophische Hymne der love-and-peace-Zeit. In ihr kommt das antike phlegmatische Temperament zum Ausdruck.
„Phlegma“ war positiv besetzt! Ein Phlegmaticus lässt sich von den täglichen Aufgeregtheiten, sogar von den Schrecken des Vietnam-Krieges nicht aus der Bahn werfen. Er setzt dem den Hymnus auf die Liebe entgegen.
Wichtig zu wissen, dass ALL YOU NEED IS LOVE 1967 für die allererste weltweite Fernseh-Satellitenübertragung komponiert wurde. 400 Millionen Menschen haben das verfolgt. Da waren nun die Beatles zu sehen und mit ihnen die ehrwürdigen Herren vom London Philharmonic Orchestra (Frauen waren damals noch nicht dabei). Und was hörten die 400 Millionen zu Beginn? Die französische Nationalhymne.  
*TAKE 6:  0 – ca. 35’’
Jetzt müssen die Franzosen weghören: es geht gar nicht um Frankreich. Es geht um die Prinzipien der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüder-lichkeit, und dazu, grundierend, das Prinzip Liebe. Und das raffinierterweise mit asymmetrischen Takten: 4/4 plus 3/4.
*Spielen und erläutern am Klavier
Und das kommt einem beim Hören so schön natürlich vor! Im Refrain dann in der Melodie die Beschränkung auf einen einzigen Ton – das könnte sehr lang-weilig sein, wenn nicht die musikalische Umgebung wäre, besonders die Kommentare der Bläser; nach dem 2.Kommentar kommt auch in die Melodie und in die Harmonik Bewegung.
*Spielen und erläutern am Klavier
ALL YOU NEED IS LOVE endet mit einem sehr, sehr langen fade out. Und das ist ein wunderbares Beispiel für musikalische Collagetechnik. Ich kann mir vorstellen, wie ein Brainstorming mit den Beatles und George Martin ausgesehen haben könnte: was von all dem, was wir kennen und lieben, können wir in diese Collage einfügen? Und da hören wir dann eine Vereinigung von Pop, Jazz, soge-nannter Klassik, Volkslied und Selbstzitaten der Beatles. Die Trompeten spielen J.S.Bachs Invention in F-Dur, die Saxophone Glenn Millers „In the mood“, dann erklingt das altenglische Lied „Greensleeves“, und kurz vor Ende ist „She loves Yor, yeah, yeah, yeah“ zu hören. ALL YOU NEED IS LOVE – und die Liebe zur Musik gehört essentiell dazu. Zum Abschluß hören wir das gesamte Stück.
*TAKE 7:  3’45’’

 

Bach und Ligeti zu Besuch bei den Beatles.

Prof.Dr.Hartmut Fladt

Abenteuerliches beim Hören und Verstehen von nicht nur popularer Musik
Vortrag in der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ in Dresden am 17.11.2008

In jedem Menschen löst gehörte Musik Gefühle aus, Träume, Assoziationen, auch unmittelbare körperliche Reaktionen. Was wir aber fühlen, das hängt grundsätzlich von zwei Voraussetzungen ab:
  • einerseits, selbstverständlich, von der Musik selbst; sie hat bestimmte Charaktere, ein bestimmtes Tempo, bestimmte Klangfarben und Lautstärken, bestimmte Affekte, und sie hat – im Falle von Vokalmusik – einen Text mit einer bestimmten Aussage.
  • Wenn wir es bei dieser einen Voraussetzung beließen, dann würden wir alle bei identischen Musikstücken das Gleiche empfinden. Aber jetzt kommt die zweite Voraussetzung ins Spiel:
  • das ist die subjektive Individualität der Musikhörer; und jeder Mensch hat so unterschiedliche kulturelle, soziale und individuelle Vorbedingungen (bis hin zum Bildungsprivileg), dass es – bei identischer Musik – zu gewaltigen Unterschieden im Erleben kommen kann.

In seine „Maximen und Reflexionen“ formulierte Goethe einen wunderbaren Satz: Es hört doch jeder nur, was er versteht. Es erklingt Musik – ich bin zu Tränen gerührt, mein Sitznachbar kämpft mit dem Wegschnarchen, oder ihm ist physisch übel, je nachdem. Viele HipHop-Produkte werden von Jugendlichen nicht nur wegen der erzählten Inhalte, sondern durch Rhythmus, Metrum, Sound als DIE Musikalisierung ihres Lebensgefühls erfahren – ich höre uffz uffz uffz uffz (es müssen immer 2er-Potenzen sein) und denke: Mann, ist der Drumcomputer wieder vital heute.
Gern berichte ich in diesem Zusammenhang immer wieder von einem  japanischen „Ur-Erlebnis“: Ich sitze im No-Theater, das ich interessiert zur Kenntnis nehme, ohne den Bedeutungs-Code von theatralischen und musikalischen Elementen zu kennen (also Instrumentenfarbe, melodische Wendungen, Rhythmus, Sprachtonfälle etc.); ein Japaner neben mir zuckt bei bestimmten Ereignissen in der Musik zusammen, leidet mit, bekommt Schweißausbrüche – ich sitze da und verstehe (fast) nichts. Aber immerhin: ich kann mir Wissen aneignen, und mit diesem Wissen kann ich Gefühle neu fühlen.
Grundsätzlich: Wissen verändert Gefühle genau so wie Gefühle Wissen verändern. Und ich höre No-Musik jetzt anders, weil ich sie adäquater verstehe. Auch im Bereich von Blues und Jazz, von Rock- und Pop-Musik höre ich anders, wenn ich mir spezifisches neues Wissen angeeignet habe und nicht in meinen Vor-Urteilen befangen bleibe (die habe ich, wenn ich mich so an meine Bemerkung gerade über bestimmte Arten des HipHop erinnere...). Musikhören tendiert fast naturwüchsig zur sogenannten Intentionalität: ich projiziere in ein gehörtes Stück alle meine gebündelte Erfahrung hinein – ich glaube mich frei beim Hören, bin aber in Wirklichkeit heftig konditioniert.

"Verständlichkeit" in allen Künsten ist überhaupt nur auf die folgende Weise möglich: die Kunst greift auf ein vorgewusstes und bewusst wie unbewusst gespeichertes System von erlebten, gefühlten, gewussten und gedachten Erfahrungen zurück. In jedem Fall ist Wissen in jeder KUNST immer zugleich ein SINNLICHES WISSEN.

Musik als Gefühlssprache des Herzens: diese schöne Metapher existiert seit der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts. Aber es ist eine fromme Illusion, zu glauben, dass diese Sprache unmittelbar verständlich sei. Melodische und harmonische Wendungen, Rhythmen, Figurationen, die seit ca. 500 Jahren üblich sind, sind bis zum heutigen Tage verständlich, auch wenn sie im „modernen Gewande“ versteckt sind. Aber: man muss die Vokabeln kennen, die Redewendungen, die Gefühls-Koordinaten. In der Regel eignet man sich so etwas an wie die Muttersprache – man wächst hinein, man beherrscht auch sehr komplexe Phänomene, ohne sich über die theoretischen Grundlagen von Grammatik oder Syntax Rechenschaft ablegen zu müssen. Als Paul McCartney gefragt wurde, warum er denn in „Eleanor Rigby“ das Dorische und das Äolische gleichermaßen verwende, soll er die klassische Antwort gegeben haben: „Hä?“
Das soll UNS aber nicht daran hindern, Zusammenhänge und Hintergründe aufzudecken, die ja einen Großteil unseres musikalischen Erlebnis- und Verstehens-Potentials ausmachen.

Damit wären wir also bei den Beatles angekommen. Ich möchte das Pferd beim Schwanze aufzäumen – ganz wörtlich, denn ich beginne mit einer CODA. Das ist wohl die berühmteste Coda in der Geschichte der Popmusik, und in ihr stattet u.a. J.S.Bach seinen Besuch bei den Beatles ab. Hier sind aber so viele Gäste zu Besuch, dass sie sich quasi auf die Füße treten.
Wir hören

TRACK 1    ALL YOU NEED IS LOVE – CODA (Ausschnitt)

ALL YOU NEED IS LOVE endet mit einem sehr, sehr langen fade out. Und das ist ein wunderbares Beispiel für musikalische Collagetechnik. Ich kann mir vorstellen, wie ein Brainstorming mit den Beatles und George Martin, dem Producer und Komponisten,  ausgesehen haben könnte: was von all dem, was wir kennen und lieben, können wir in diese Collage einfügen? Und da hören wir dann eine Vereinigung von Pop, Jazz, sogenannter Klassik, Volkslied und Selbstzitaten der Beatles. Die Trompeten spielen J.S.Bachs Invention in F-Dur, die Saxophone Glenn Millers „In the mood“, dann erklingt das altenglische Lied „Greensleeves“, und kurz vor Ende ist „She loves You, yeah, yeah, yeah“ zu hören.
Wichtig zu wissen ist, dass ALL YOU NEED IS LOVE 1967 für die allererste weltweite Fernseh-Satellitenübertragung komponiert wurde. 400 Millionen Menschen haben das verfolgt. Da waren nun die Beatles zu sehen und mit ihnen die ehrwürdigen Herren vom London Philharmonic Orchestra (Frauen waren damals noch nicht dabei). Und was hörten die 400 Millionen zu Beginn? Die französische Nationalhymne. 

TRACK 2    ALL YOU NEED – INTRO+STROPHE   

Jetzt müssen die Franzosen weghören: es geht gar nicht um Frankreich. Es geht um die Prinzipien der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und dazu, grundierend, das Prinzip Liebe. Und das raffinierterweise mit asymmetrischen Takten: 7/4, also 4+3 Viertel.

Der vielfache Besuch auf diesem „Love-In“ der späten 60er kam also als Sammlung von Zitaten. Es gibt aber noch viele andere Möglichkeiten. Ich bleibe bei den Beatles: A Day in the Life aus "Sgt.Pepper" als Meilenstein der Popgeschichte; das ist das Schluss-Stück eines ganzen Konzept-Albums, des ersten in der Musikgeschichte, darum besonders bedeutungsvoll. Damit verabschiedeten sich die Beatles vom Status einer live-Band; solche komplexen Dinge sind nur im Studio produzierbar. Wir finden zahlreiche Berührungspunkte zu "E-Avantgarde". Zu hören sind John-Lennon-Strophen, Paul McCartney-Strophen und sogenannte „Bridges“. Zunächst einmal der Lennon-Beginn – ein schein-normaler Alltag wird besungen, mit schrecklichen Abgründen unter der Oberfläche.

TRACK 3 A DAY IN THE LIFE  –  LENNON-STROPHE

* ZUM KLAVIER

Schöne balladeske Melodie; beginnt mit einem Trichord aus einer  pentatonischen Urformel, die in allen Musikkulturen dieser Erde vorkommt. (Stille Nacht, Gesang der Wolgaschlepper, Sacre; Klavier)
Zum Staunen: die Strophe hat genau die Akkord- und Bassfolge eines der berühmtesten Stücke von J.S.Bach, dem "Air" für Orchester aus der D-Dur-Suite. (Klavier) Ich behaupte nicht, dass es ein Bach-Zitat sei; auch Bach selbst hat diesen Topos ja nicht erfunden, sondern er hat ihn individualisiert, aber: durch Bach hat das Eingang gefunden in die Rezeption durch bürgerliche englische Familien wie die Lennons und McCartneys. (Für Kids von heute spielt da die Werbung eine erstaunliche Rolle bei der musikalischen Sozialisation: „...das ist doch die Musik von dieser Versicherung...“ – ja, das ist Eric Satie; „... das von dieser Bank...“ – ja, Debussys „Des pas sur la neige“; „und die Benzinwerbung mit dem Autoballett im Sand... – ja, Schostakowitsch).
 
Und bei den Beatles kommt jetzt die Bridge: ein katastrophischer Einbruch; ein Orchester-Cluster, sich quälend in die Höhe verschiebend

TRACK 4        A DAY - BRIDGE

Was ist ein "cluster"? (extemporiert) George Martin als "5.Beatle" (so Paul McCartney) hat ja nicht nur Eleanor Rigby für Streichquartett arrangiert und unendlich viele Anregungen gegeben und für Professionalisierungen gesogt; wichtig ist seine Vermittler -Rolle auch zur „E-Avantgarde“. (Man höre sich darauf hin einmal seine Filmmusik zu „Yellow Submarine“ genauer an!) 
Die Referenz des sich verschiebenden Orchester-Clusters ist eindeutig: György Ligetis damals europaweit berühmtes Orchesterstück „Atmosphères“ von 1961. 

TRACK 5        LIGETI

* ZURÜCK ZUM PULT

Dieses und viele andere Werke von Ligeti sind bis heute einem sehr großen Publikum vetraut – wenn auch nie bewusst –, da sie von Stanley Kubrick in Filmen wie z.B. „2001- Odyssee im Weltraum“ und „The Shining“ ungemein charakteristisch eingesetzt wurden.

Eine kleine professorale Zwischenbilanz. Solche „Besuche“ repräsentieren ja verschiedene Arten von musikalischen Verfahrensweisen. Wir haben bisher gehört Zitate, wir haben gehört eine Allusion des Ligeti-Stückes, also eine anspielende Anverwandlung, und wir haben gehört (beim Trichord und dem Air von Bach) eine allgemeine Teilhabe an musikalischer Sprache, an ihren Vokabeln, ihrer Syntax, ihren Topoi. Für diese 3 Kategorien möchte ich jetzt vertiefend noch ganz andere Beispiele anführen.
Also: Quiz; wer besucht wen, wie und warum überhaupt?

TRACK 6       ASHCROFT, A SONG FOR LOVERS

Ashcrofts „A Song for Lovers“ barockisiert heftig. Gerade die Streicher-Idiomatik, unter die sich dann allmählich das Rock-Instrumentarium schiebt, setzt ein hochbarockes Ausrufezeichen, ohne aber konkretes Zitat zu sein. Viel wichtiger aber für den Song ist ein strukturelles Element aus der Musikgeschichte. Ashcroft schreibt eine Passacaglia, also eine permanente Wiederholung eines Bass-Modells, über dem immer neue Variationen entstehen. Es ist der sehr charakteristische „diatonische Lamentobass“, ein sogenanntes „phrygisches Tetrachord“ abwärts, schon im 15.Jahrhundert musikalisches Zeichen von Leid und Trauer. Und so ist es auch in den Flamenco eingewandert. Bei Ashcroft wandert die Linie z.T. auch in höhere Stimmen. Wir hören noch einmal, ich singe die Lamento-Linie mit (Sie alle können die Lamento-Linie mitsingen – immer und immer wieder: a – g – f - e).

TRACK 6       ASHCROFT, A SONG FOR LOVERS

Und jetzt soll wenigstens EIN sehr berühmtes Referenz-Stück gleicher Machart und vergleichbarer Aussage aus dem Frühbarock erklingen (zufällig hat es auch die gleiche Tonart): Claudio Monteverdis „Lamento della Ninfa“, der Klagegesang der vom Geliebten verlassenen Nymphe (aus seinem 8.Madrigalbuch). Ich behaupte nicht, dass Ashcroft hier abgekupfert hat; die intertextuellen Bezüge sind aber verblüffend.

TRACK 7  MONTEVERDI, LAMENTO DELLA NINFA

Ja, Monteverdi zu Besuch bei Ashcroft. Nun zu etwas ganz anderem – ein kleines Wechselbad der Gefühle.

TRACK 8    PET SHOP BOYS, GO WEST

* ZUM KLAVIER

Pet Shop Boys - Go West Aufbruchstimmung, Siegensgewissheit, auch auf dem Fußballplatz: Steh auf, wenn du Schalker bist! Der Westen als Glücksversprechen, als Freiheitsversprechen. Aber auf dieser komischen Erde ist es halt so: wenn man permanent in den Westen geht, kommt man irgendwann im Osten an, und wie das dann klingt, demonstriere ich: (Klavier)
Ja, das ist die russische Nationalhymne, früher auch die sowjetische, durch Putin mit neuem Text reaktiviert. – Das war jetzt ein kleiner Taschenspieler-Trick, denn das Modell, das all dem zugrunde liegt, ist unendlich viel älter; es kommt aus dem 15.Jahrhundert, aus der Improvisationskunst, das sogenannte „Parallelismus-Modell“, und das haben alle Komponisten bis mindestens Gustav Mahler dutzende Male komponiert (leider hat sich das noch nicht bei allen Musiktheoretikern herumgesprochen; sie kennen es vom Kanon des Komponisten Pachelbel aus dem 17.Jahrhundert und nennen es deswegen „Pachelbel-Modell“ (Klavier) – mit gleichem Recht könnte es Josquin-Modell heißen oder Mozart-Modell oder PetShop-Modell – oder Putin-Modell).

Beim nächsten Beispiel platzen die Kürbisse: „Tonight“ von den SMASHING PUMPKINS

TRACK 9    SMASHING PUMPKINS, TONIGHT

Diese Allusion von Edward Griegs „Morgenstimmung“ aus „Peer Gynt“ grenzt an Diebstahl. Und dass ausgerechnet die „Morgenstimmung“ für „Tonight“ verwendet wird, ist schon wieder bewundernswert.
(Klavier) (bei Grieg ist es E-Dur, hier Fis-Dur)

Musik als die "Gefühlssprache des Herzens" bewegt uns seit dem späteren 18.Jahrhundert nahezu ungebrochen bis heute. Doch die Forderung der Wiener Klassiker war es, dass in diese Gefühlswelt immer auch der Verstand, die Vernunft und der Ethos-Charakter von Musik verwoben sein müssen, also: die gesellschaftliche Verantwortlichkeit der Kunst. Udo Jürgens hat mit „Merçi, Chérie“ ja durchaus einen zu Herzen gehenden Grand-Prix-Siegertitel geschrieben, aber auch der Ethos-Charakter von Musik war und ist ihm nicht fremd, wie Titel wie „Ein ehrenwertes Haus“ oder „Lieb Vaterland magst ruhig sein, die Reichen zäunen ihren Reichtum ein“ demonstrieren. Wir hören in „Merçi, Chérie“ hinein.

TRACK 10  UDO JÜRGENS (Merçi, Chérie)

Udo Jürgens ist ein professionell ausgebildeter Könner – er ist mit allen Wassern der Popmusik, des Jazz, des Chansons, des Musicals, aber auch der „E-Musik“ und natürlich des Schlagers gewaschen. Merçi Chérie ist von 1966 (!). Wenn man es oberflächlich hört, könnte man meinen: O.K., Liebesschnulze, der Herzensbrecher am Klavier, die Streicher schluchzen mit. Also, auf der einen Seite durchaus Klischee-Erfüllung, ans Vertraute anknüpfend. Aber: das ist gleichzeitig ziemlich raffiniert gemacht. Wir haben ein langsames, sehr getragenes Grund-Tempo. Dieser Beat ist aber so gegliedert, dass es gleichzeitig ein langsamer Blues und ein Wiener Walzer ist (Udo hat bekanntlich für Österreich gewonnen). Charakteristisch auch die langen Pausen in der Melodie – normalerweise tut man so etwas im Schlager nicht.
Adieu --- adieu --- adieu --- deine Tränen tun weh --- tun weh --- tun weh --- (der Text ist schon arg kitschig). Aber: das ist völlig unverwechselbar, individuellst und ungeheuer einprägsam! Die Pausen werden durch Walzer-Figurationen ausgefüllt. KLAVIER Und dann gibt es im Orchester noch eine kleine rhythmische Anschärfung. KLAVIER Jetzt beruht die Strophe aber in schöner Eindeutigkeit auf Schuberts G-Dur-Fantasiesonate. KLAVIER Der Höhepunkt des Stücks lautet: „Kein Meer ist so wild wie die Liebe“; und da wird allen Ernstes Richard Wagners Tannhäuser bemüht, nicht ganz wörtlich, aber als Allusion, also als „anspielende Anverwandlung“. Beides in F-Dur, Tempo etwa identisch, ebenso die Ausfüllung der “beats“, der Zählzeiten mit triolischen Dreiergruppen, melodisch die stark betonte Auftakts-Quarte, und eindeutig die Geigen-Figuration mit den Tonrepetitionen. 

TRACK 11  UDO JÜRGENS (Ausschnitt)
TRACK 12  Wagner/Tannhäuser

Jetzt kommen wir aber zu einer neuen, ganz anderen Kategorie, die durch die Möglichkeiten der Digitalisierung eröffnet wurde:

TRACK 13      CHEMICAL BROTHERS, GALVANIZE

* ZURÜCK ZUM PULT

Die Digitalisierungen der Sample-Techniken erlauben in der Gegenwart ALLES. Das einzige, was die versierten Jungs zu fürchten haben (Mädchen gibt’s in dem Genre kaum), ist das Urheberrecht. Was benutzen die Chemical Brothers – zugegeben sehr virtuos? Ein Sample von arabischer Musik, in einem Stimmungssystem, das nicht, wie unsere Flügel, gleichschwebend temperiert ist, sondern das z.B. Vierteltöne und Dritteltöne kennt. Und so reibt sich dieses musikalische Multikulti-Raubgut sehr produktiv am mitteleuropäischen Rest dieses Stückes – die Chemical Brothers sind durchaus virtuose Komponisten.

Und noch weitere Kategorien gibt es: wir hatten bisher 1.Zitate, 2.Allusionen, 3.Teilhabe an Sprache und ihren Vokabeln und 4.Sample-Techniken. Wir kommen, abschließend, zu den Kategorien Bearbeitung, Adaption und Cover-Version. Den Unterschied kann man juristisch definieren: für eine Bearbeitung braucht man die Genehmigung des Urhebers bzw. des Rechte-Inhabers, und wenn diese Bearbeitung künstlerisch eine selbstständige Leistung darstellt, dann bekommt der Bearbeiter 50% der GEMA-Einnahmen. Eine Cover-Version hat diesen Anspruch von vornherein NICHT, und so verzichten die Cover-Macher auch a priori auf die Einnahmen der Verwertungsgesellschaften (es bleiben aber in der Regel noch hübsche Sümmchen für CD-Verkauf etc.).

TRACK 14    STING, THE SECRET MARRIAGE

Sting – The Secret Marriage  - ein sehr melancholisch-schöner Song: keine irdische Kirche hat unsere Vereinigung je gesegnet, kein Staat hat uns seine Erlaubnis gegeben – keine Blumen auf dem Altar, kein weißer Schleier in deinem Haar – der Schwur der heimlichen Hochzeit wurde nie geleistet, die heimliche Ehe kann niemals zerbrechen.
Der Song ist aber gar nicht von Sting.

TRACK 15  EISLER, AN DEN KLEINEN RADIO-APPARAT

Das ist ein Lied von Hanns Eisler, An den kleinen Radioapparat aus dem "Hollywooder Liederbuch" (entstanden im Exil 1942/43); Sting hat lediglich sparsam instrumentiert, für seine Stimmlage transponiert und den neuen Text gemacht. Das "Hollywooder Liederbuch" von Hanns Eisler enthält ca. 50 Werke auf Texte aus 2500 Jahren Menschheitsgeschichte, von biblischen und anakreontischen Fragmenten über Pascal, Goethe, Hölderlin, Rimbaud bis hin zu Bertolt Brecht. Der Brecht-Text An den kleinen Radioapparat geht auf eine rührende Weise mit der bedrückenden Exil-Situation zur Zeit der großen Nazi-Siege um:

Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug
Daß seine Lampen mir auch nicht zerbrächen
Besorgt vom Haus zum Schiff, vom Schiff zum Zug
Daß meine Feinde weiter zu mir sprächen

An meinem Lager und zu meiner Pein
Der letzten nachts, der ersten in der Früh
Von ihren Siegen und von meiner Müh:
Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein!

Es wird Zeit für ein Schmankerl. Nicht zu glauben: Charlie Chaplin zu Besuch bei Béla Bartók! Und zwar auf eine mich selbst verblüffende Weise: ich sagte mir immer, beim Hören von zwei Stellen des Schluss-Satzes von Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta: das kennst du doch? Aber woher bloß? Und irgendwann habe ich mich erinnert: Chaplin!
Es geht um den wunderbaren Film „Modern Times“ (UA Jan. 1936) – die Szene mit Charlie als der singende Kellner mit dem vergessenen Text. Das ist heute selbstverständlich immer noch ein Hauptprobleme beim Singen – wohin schreibe ich den Text, den ich so gern vergesse? Charlie entscheidet sich für die Manschetten, tritt mit großer Geste auf, die Manschetten fliegen weg – und dann singt er improvisierend einen unvergleichlichen Nonsense-Text. Bitte nicht vergessen: in diesem Lied erklingt zum ersten Male überhaupt die Stimme Chaplins in einem Film!
Kurze Kostprobe des Textes:

Le spinash or le busho, cigaretto toto bello,
Ce rakish spagoletto, si la tu, la tu, la tua!

TRACK 16    CHAPLIN, MODERN TIMES

Das ist ein polkaähnlicher Twostep-Rhythmus, mit melodischem Umkreisen des Quint-Tones; eine Groteske der trivialen Popularmusik aus der 1.Hälfte des 20.Jahrhunderts.

Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta entstand im Spätsommer 1936, UA Jan. 1937, also genau 1 Jahr nach Chaplin. Es gibt keinen Beweis, dass Bartók den Film bewusst rezipiert hat, wir wissen aber, dass er Chaplin sehr liebte und ein eifriger Kinogänger war. Daher ist die Wahrscheinlichkeit einer Allusion der Groteske sehr hoch. Bartók spitzt aber die musikalische Groteske Chaplins noch zu, indem er das rhythmische Motiv auf einer Tonhöhe repetiert, allerdings als dissonanten Tonfleck, und dann die Melodik noch ins Absurde verzerrt.

TRACK 17  BARTÓK, MUSIK FÜR SAITENINSTRUMENTE, 4.SATZ

* ZUM KLAVIER

Die zugespitzte Groteske mündet in die Lösung einer großen Kantilene der Streicher. Und diese Kantilene hat den musikalischen Hauptgedanken des ganzen Werks, allerdings in einer Gestalt, die das Ergebnis einer kompositionstechnischen Finesse, die Bartók selbst als „extension in range“ bezeichnete. Ursprünglich lautete das Thema in den anderen Sätzen so: (Klavier) Also: äußerste Enge von Halbtönen. Und dann erfahren also diese Intervalle im Schluss-Satz ihre „extension“, ihre Dehnung in der annähernden Proportion 1:2. (Klavier) (Für die Kenner: aus einem 13tönigen lydisch-lokrischen Tonfeld wird nun die akustische Skala). Für uns aber ist viel wichtiger, dass mit diesem Thema der Bogen zurück zu unserem Anfang gespannt ist: denn die wichtigsten Töne der ursprünglichen Gestalt sind (Klavier)
B A C H. Der erste Satz der „Musik für Saiteninstrumente“ von Béla Bartók ist eine Fächerfuge, eine Hommage für Johann Sebastian Bach.
Und so war heute Bach zu Besuch Bei den Beatles und Bei Bartók.

(Vielleicht, wenn Zeit ist):

TRACK 18    BOWIE, A SMALL PART OF LAND (1996, First Outside Version)

Bowie zeigt sich hier von den Schichtungs-Prinzipien der „Vertikal-Montage“ aus Bildender Kunst (er malt selbst) beeinflusst, die auch bei Stravinskij, Schnittke und anderen konstatierbar sind. Das Stück steht in B-Phrygisch, ist aber polymodal/polytonal konzipiert, sodass der Entwicklungs-Höhepunkt einen 12tönigen Gesamtklang hat – durch die Singstimme dennoch in B-Phrygisch zentriert; virtuoses Jazz-Piano und das Rock-Schlagzeug sorgen für (relative) Vertrautheit im Unvertrauten – eine experimentelle Musik, die auch von Bowie-Fans eher skeptisch beurteilt wird, aber rundum „auf der Höhe der Zeit“ ist.